node created 2019/09/29
Hilf mir einfältig werden, bleibe bei mir, o, wenn ich einmal Vater sagen könnte zu Dir. Doch kann ich Dich kaum mit „Du“ anreden. Ich tue es, in ein großes Unbekanntes hinein, ich weiß ja, dass Du mich annehmen willst, wenn ich aufrichtig bin, und mich hören wirst, wenn ich mich an Dich klammere. Lehre mich beten. Lieber unerträglichen Schmerz als ein empfindungsloses Dahinleben. Lieber brennenden Durst, lieber will ich um Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen beten, als eine Leere zu fühlen, eine Leere, und sie zu fühlen ohne eigentliches Gefühl. Ich möchte mich aufbäumen dagegen.
29. Juni 1942
Weißt du, bei diesen Überlegungen über den Hunger, der im Menschen ist, und für den Musik nichts anderes ist als die Luft für eine Flamme, nur noch zu hellerer Glut anfachend – bei diesen Überlegungen ist mir zum Bewusstsein gekommen, wie wir doch verhungern müssten, würde Gott uns nicht nähren: und dass es nicht nur der eine lange Faden ist, mit dem wir an Gott geknüpft sind durch die Schöpfung, wie es mir früher schien, wo ich noch nicht wusste, was ein Leben ist, zumal ein Menschenleben.
Januar 1942
Musik aber macht das Herz weich; sie ordnet seine Verworrenheit, löst seine Verkrampftheit und schafft so eine Voraussetzung für das Wirken des Geistes in der Seele, der vorher an ihren hart und verschlossenen Pforten vergeblich geklopft hat. Ja, ganz still und ohne Gewalt macht die Musik die Türen der Seele auf. Nun sind sie offen! Nun ist sie bereit, aufzunehmen. Dieses ist die letzte Wirkung, die Musik auf mich ausübt, die sie mir notwendig macht in diesem Leben. Und so wenig ich mich wasche um des Wassers willen, das ich dazu benötige, so wenig höre ich Musik um der Musik willen.
Januar 1942
Ich habe aber erfahren, dass ein harter Geist ohne ein weiches Herz ebenso unfruchtbar sein muss wie ein weiches Herz ohne einen harten Geist. Ich glaube, der Satz stammt von Maritain: Il faut avoir l’esprit dur et le coeur tendre. Ein Wort, das von der Seele nicht erlebt wird, ist ein totes Wort, und ein Gefühl, das nicht der Schoß eines Gedankens ist, ist vergeblich.
Januar 1942
Wenn ich beten will und überlege mir, zu wem ich bete, da könnte ich ganz verrückt werden, da werde ich dann so winzig klein, ich fürchte mich direkt, so dass kein anderes Gefühl als das der Furcht aufkommen kann. Überhaupt fühle ich mich so ohnmächtig, und ich bin es wohl auch. Ich kann um nichts anderes beten, als um das Betenkönnen. Weißt du, wenn ich Gott denke, da stehe ich da wie ganz mit Blindheit geschlagen, ich kann gar nichts tun. Ich habe keine, keine Ahnung von Gott, kein Verhältnis zu ihm. Nur eben, dass ich das weiß. Und da hilft wohl nichts anderes als Beten. Beten.
Dezember 1941
Da verliert sich das Herz in dieser kleinen Unruhe und vergisst seinen großen Heimweg. Unvorbereitet, an nichtige niedrige Spielereien hingegeben, könnte es von seiner Stunde überrascht werden, um kleiner Freuden willen die eine große verkauft zu haben. Ich erkenne es, mein Herz erkennt es nicht. Es träumt fort, unbelehrbar, von mir lästigen Mächten eingewiegt, schwankend zwischen Lust und Traurigkeit. … O, wenn mein Herz tausendmal an den Schätzen hängt, und sei es bloß die Liebe zum süßen Leben, reiß mich los, gegen meinen Willen, denn ich bin zu schwach, es zu tun, vergälle mir alle Freuden, laß mich elend sein und Schmerzen fühlen, bevor ich meine Seligkeit verträume.
Herbst 1941
Im Kindergarten kenne ich mich nun schon eher aus, manche Kinder habe ich schon sehr liebgewonnen, und ich fühle mich glücklich, wenn sie mir ihr Gunst schenken. Jetzt erst merke ich, wie oberflächlich ich im Grunde mit Kindern umgehe. Es bedarf nicht nur des gegenüber Kindern so schnell aufwallenden Gefühls. Ich verstehe erst, welche grenzenlose Liebe man haben muss, zu allen Lebewesen, um diese unberechenbaren, oftmals bösartigen, oft herzerquickenden kindlichen Seelen überhaupt behandeln zu können. Es gibt so wenige, die soviel Liebe besitzen. Aber auch zu ihr kann man gelangen.
8. Juli 1940
Du findest es sicher unweiblich, wie ich Dir schreibe. Es wirkt lächerlich an einem Mädchen, wenn es sich um Politik kümmert. Sie soll ihre weiblichen Gefühle bestimmen lassen über ihr Denken. Vor allem das Mitleid. Ich aber finde, dass zuerst das Denken kommt, und dass Gefühle oft irreleiten, weil man über dem Kleinen, das einen vielleicht unmittelbarer betrifft, vielleicht am eigenen Leib, das Große kaum mehr sieht.
28. Juni 1940
Auf meinem Nachttisch stehen zwei Rosen. An die Stiele und das Blatt, die ins Wasser hängen, haben sich winzige Perlen gereiht. Wie schön und rein dies aussieht, welch kühlen Gleichmut es ausstrahlt. Dass es dieses gibt. Dass der Wald so einfach weiter wächst, das Korn und die Blumen, dass Wasserstoff und Sauerstoff sich zusammengetan haben zu solch wunderbaren lauwarmen Sommerregentropfen. Manchmal kommt mir dies mit solcher Macht zu Bewusstsein, dass ich ganz voll davon bin und keinen Platz mehr habe auch nur für einen einzigen Gedanken. Dies alles gibt es, trotzdem sich der Mensch inmitten der ganzen Schöpfung so unmenschlich und nicht einmal tierisch aufführt. Allein dies ist schon eine große Gnade.
17. Juni 1940
Auch mir ist manchmal danach zu Mute, die Waffen zu strecken. Aber, allen Gewalten zum Trotz! Es geht ja im Leben immer auf und ab. Man muss nur warten können. Ich werde versuchen, mich nicht mit Träumen zufrieden zu geben, mit Schöngeistigkeit und noblen Gesten. Man darf heute nicht sehr weichherzig sein.
17. Juni 1940
Ich frage mich nur manchmal, ob wohl in früheren Jahrhunderten auch so oberflächlich gedacht und gelebt wurde wie heute. Oder ob allmählich, wenn die Zeit zu zurücksinkt, auch ihr Schlechtes in den Hintergrund tritt und das Gute besonders hell leuchtet? Jedenfalls glaube ich, dass der Einzelne, wie der Ausgang auch sei, zu wachen hat, und erst recht dann, wenn ihm das schwer gemacht wird. Du glaubst doch auch, dass man niemals dies nach oben nivellieren kann, so erstrebenswert dies auch scheint. Wenn schon nivelliert wird, dann geschieht dies immer nach unten. Aber auch hier ist uns vom Schicksal eine glänzende Gelegenheit geboten, uns zu bewähren. Vielleicht sollte man auch das nicht zu gering schätzen.
14. Juni 1940
Manchmal bin ich versucht, die Menschheit als eine Hautkrankheit der Erde zu betrachten. Aber nur manchmal, wenn ich sehr müde bin, und die Menschen so groß vor mir stehen, die schlimmer als Tiere sind. Aber im Grunde kommt es ja nur darauf an, ob wir bestehen, ob wir uns halten können in der Masse, die nach nichts anderem als nach Nutzen trachtet. Denen, um ihr Ziel zu erreichen, jedes Mittel recht ist. Diese Masse ist so überwältigend, und man muss schon schlecht sein, um überhaupt am Leben zu bleiben. Wahrscheinlich hat es bisher nur ein Mensch fertig gebracht, ganz gerade den Weg zu Gott zu gehen. Aber wer sucht den heute noch?
29. Mai 1940
Wenn ich auch nicht viel von Politik verstehe, und auch nicht den Ehrgeiz habe, es zu tun, so habe ich doch ein bisschen ein Gefühl, was Recht und Unrecht ist, denn dies hat ja mit Politik und Nationalität nichts zu tun. Und ich könnte heulen, wie gemein die Menschen auch in der großen Politik sind, wie sie ihren Bruder verraten um eines Vorteils willen vielleicht. Könnte einem da nicht manchmal der Mut vergehen? Oft wünsche ich mir nichts, als auf einer Robinson-Crusoe-Insel zu leben.
29. Mai 1940
Wie könnte man da von einem Schicksal erwarten, dass es einer gerechten Sache den Sieg gebe, da sich kaum einer findet, der sich ungeteilt einer gerechten Sache opfert. – Ich muss hier an eine Geschichte des Alten Testamentes denken, wo Mose Tag und Nacht, zu jeder Stunde, seine Arme zum Gebet erhob, um von Gott den Sieg zu erbitten. Und sobald er einmal seine Arme senkte, wandte sich die Gunst von seinem kämpfenden Volke ab. Ob es wohl auch heute noch Menschen gibt, die nicht müde werden, ihr ganzes Denken und Wollen auf eines ungeteilt zu richten?
22. Mai 1940
Der Mensch soll ja nicht, weil alle Dinge zwiespältig sind, deshalb auch zwiespältig sein. Diese Meinung trifft man aber immer und überall. Weil wir hineingestellt sind in diese zwiespältige Welt, deshalb müssen wir ihr gehorchen. Und seltsamerweise findet man diese ganz und gar unchristliche Anschauung gerade bei den so genannten Christen.
22. Mai 1940
Die Deutschnationalen schließlich, die konservativen Rechtskreise, die "Ehre" und "Heroismus" geradezu als ihr Parteiprogramm vindizierten - o Gott, wie überaus ehrlos und feige war das Schauspiel, das ihre Führer ihren Anhängern im Jahre 1933 und seither vorführten! Nachdern sich die Erwartung des 30. Januar, daß sie die Nazis "eingefangen" hätten und "unschädlich machen" würden, enttäuscht hatten, erwartete man wenigstens von ihnen, daß sie "bremsen" und "das Schlimmste verhüten" würden. Nichts da; sie machten alles mit, den Terror, die Judenverfolgungen, die Christenverfolgungen, ja sie ließen sich nicht dadurch stören, daß man ihre Partei verbot, ihre Anhänger verhaftete. Sozialistische Funktionäre, die ihre Wähler und Anhänger im Stich lassen und fliehen, sind, als Erscheinung, trübselig genug. Was aber soll man zu adligen Offizieren sagen, die zusehen, wie ihre nächsten Freunde und Mitarbeiter erschossen werden - wie der Herr von Papen - und weiter im Amt bleiben und "Heil Hitler" rufen?!

Wie die Parteien, so die Bünde. Es gab einen "Kommunistischen Frontkämpferbund", es gab ein "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold", militärisch organisiert, nicht ganz waffenlos, mit Millionen Angehöriger, ausdrücklich dazu bestimmt, im Notfall die SA in Schach zu halten. Man bemerkte die ganze Zeit über nichts von diesem "Reichsbanner", überhaupt nichts, nicht das Geringste. Es verschwand spurlos, als wäre es nie dagewesen. Widerstand gab es in ganz Deutschland höchstens als individuelle Verzweiflungstat - wie bei jenem Gewerkschaftsmann aus Cöpenick. Die Reichsbanneroffiziere schwangen sich nirgends auch nur zu einer Spur von Gegenwehr auf, wenn ihre Verbandshäuser von der SA "übernommen" wurden. Der "Stahlhelm", die Armee der Deutschnationalen, ließ sich gleichschalten und später stückweise auflösen, murrend aber widerstandslos. Es gab nicht *ein* Beispiel von Verteidigungsenergie, Mannhaftigkeit, Haltung. Es gab nur Panik, Flucht und Überlauferei. Millionen waren im März 1933 noch kampfbereit. Sie fanden sich über Nacht führerlos, waffenlos und verraten. Ein Teil von ihnen suchte noch, verzweifelt, Anschluß beim "Stahlhelm" und bei den Deutschnationalen, als sich zeigte, daß die andern nicht kämpften. Deren Mitgliederzahlen schwollen ein paar Wochen lang unheimlich an. Dann wurden auch sie aufgelöst - und kapitulierten kampflos.

Dieses furchtbare moralische Versagen der gegnerischen Führung ist ein Grundzug der "Revolution" vom März 1933. Es machte den Nazis den Sieg sehr leicht. Es stellt freilich auch den Wert und die Dauerhaftigkeit dieses Sieges in Frage. Das Hakenkreuz ist in die deutsche Masse nicht hineingeprägt worden wie in eine widerstrebende, aber dafür auch formfähige, feste Substanz, sondern wie in einen formlos-nachgiebigen, breiigen Teig. Der Teig mag ebenso leicht und widerstandslos eine andere Form annehmen, wenn der Tag kommt. Freilich besteht seit März 1933 die unbeantwortete Frage, ob es überhaupt lohnt, ihn zu formen. Denn die moralische Wesensschwäche Deutschlands, die damals zutagegetreten ist, ist zu ungeheuerlich, als daß nicht die Geschichte eines Tages Konsequenzen aus ihr ziehen sollte.

Jede Revolution bei anderen Völkern hat, wieviel Blutverlust und momentane Schwächung sie immer mit sich bringen mochte, zu einer ungeheuren Steigerung aller moralischen Energien auf beiden kämpfenden Seiten geführt - und damit, auf lange Sicht, zu einer ungeheuren Stärkung der Nation. Man betrachte die ungeheure Menge von Heldenmut, Todesverachtung und menschlicher Größe, die - gewiß neben Ausschreitung, Grausamkeit und Gewalt - von Jakobinern wie Royalisten im revolutionären Frankreich, von Francoleuten wie von Republikanern im heutigen Spanien entfaltet worden ist! Wie immer der Ausgang sein mag - die Tapferkeit, mit der um ihn gerungen wurde, bleibt als unerschöpflicher Kraftquell im Bewußtsein der Nation. Die heutigen Deutschen haben an der Stelle, wo dieser Kraftquell entspringen müßte, nur die Erinnerung an Schande, Feigheit und Schwäche. Das wird unfehlbar eines Tages seine Wirkungen zeigen; sehr möglicherweise in der Auflösung der deutschen Nation und ihrer staatlichen Form.

- Aus diesem Verrat der Gegner und dem Gefühl der Hilflosigkeit, der Schwäche und des Ekels, das er erzeugte, wurde das Dritte Reich geboren. Am 5. März waren die Nazis noch in der Minderheit geblieben. Drei Wochen später hatten sie, wäre noch einmal gewählt worden, wahrscheinlich wirklich die Mehrheit gehabt. Nicht nur der Terror hatte inzwischen seine Wirkung getan, nicht nur die Feste hatten viele berauscht (die Deutschen berauschen sich so gern an patriotischen Festen). Entscheidend war, daß die Wut und der Ekel gegen die eigene feig-verräterische Führung ihm Augenblick stärker wurde als die Wut und der Haß gegen den eigentlichen Feind. Zu Hunderttausenden traten auf einmal während des März 1933 Leute der Nazipartei bei, die bis dahin gegen sie gestanden hatten - die sogenannten "Märzgefallenen", beargwöhnt und verachtet von den Nazis selbst. Zu Hunderttausenden gingen, jetzt zu allererst, auch Arbeiter aus ihren sozialdemokratischen oder kommunistischen Organisationen hinüber in die nazistischen "Betriebszellen" oder in die SA. Die Gründe, aus denen sie es taten, waren verschieden, und oft war es ein ganzer Knäuel von Gründen. Aber wie lange man auch sucht, man wird nicht *einen* starken, stichfesten, haltbaren und positiven darunter finden - nicht einen, der sich sehen lassen kann. Der Vorgang trug, in jedem Einzelfall, unverkennbar alle Merkmale eines Nervenzusammenbruchs.
"Geschichte eines Deutschen"
Die Einsamkeit macht uns härter gegen uns und sehnsüchtiger gegen die Menschen: in beidem verbessert sie den Charakter.
Ein edler Charakter unterscheidet sich von einem gemeinen dadurch, dass er eine Anzahl Gewohnheiten nicht zur Hand hat.
Die Freundschafft, die der Wein gemacht,
Würckt wie der Wein, nur eine Nacht.
In Gefahr und grosser Noth
Bringt der Mittel-Weg den Tod.