9 years ago in Zitate
Aus Łódź, das fünf Jahre Litzmannstadt hieß, fliehen die Deutschen in ganzen Völkerschwärmen. Das Elend der gehetzten Haufen, die jetzt durch den östlichen Januarsturm in den polnischen Schneestürmen westwärts zurückjagen, muß grauenhaft sein.

Schreckensbilder bedrängen meine Phantasie, Mitleid belichtet den gräßlichen Filmstreifen, der sich in meinem Bewußtsein abrollt. Mitleid auch mit euch, ihr mitschuldigen Opfer von heute, die ihr kein Mitleid spürtet, als die Besiegten von damals in bitterste Lebensnot kamen. Auch die Deutschen sind zuletzt nur arme, verführte Menschen, mögen sie auch zwölf Jahre lang die Humanität bespuckt haben. Wehe, ihr Unglücklichen.

Die Deutschen haben das Philosophem vom totalen Kriege, also vom Kriege gegen Schwangerschaft, Kindersingen und Greisenschwäche geprägt. Und wie furchtbar tiefsinnig ihr euch auch aufführt, wenn ihr den Mord an der Menschheit als die höchste Offenbarung geschichtlicher Ordnung gepriesen habt. Ihr schämtet euch nicht, als angebliche Geisteserben von Kant und Hegel auf die Katheder und Tribünen zu treten, um den Ethos des Galgens mit purpurnen Phrasen zu feiern. -

So, ihr seid unschuldig, ihr wißt von nichts? Schuldig sind wohl nur die Gauschulungsleiter, die diese bluttriefende Weltbetrachtung in die leeren Schädel trichterten. Da fällt mir gerade ein kleines Erlebnis Anfang Dezember 1939 auf einem kleinen Bahnhof bei Posen ein. Ich hörte polnische Zivilgefangene in einem Güterzug lamentieren, es war gegen Abend, und es regnete trostlos.

"Haben die Menschen da drin denn heute wenigstens schon etwas zu essen bekommen?" fragte ich eine Schwester, die gerade Bohnenkaffee für ihren Freund kochte.

"Nein", erklärte die junge Hakenkreuzschwester patzig. "Und die kriegen auch nichts, heute nichts und morgen nichts."

Als ich sie finster musterte, zuckte sie die Achseln und ließ sich zu einer Begründung herab. "C'est la guerre!" sagte sie ohne Bedauern. Es waren vielleicht die einzigen französischen Worte, die das herzlose junge Ding gewußt haben mochte.

Aber da höre ich schon einen Verteidiger mit dem falschen Zungenschlag der Diktatur einwenden: was beweist denn schon das bißchen Herzensträgheit einer dummen Gans!

Also dann bitte ein anderes Erlebnis, eine Woche später in Łódź, dem düsteren Hauptquartier der Webstühle. Das Grand-Hotel in der Petrikauer Straße hatte eine prächtige Nazi-Festkulisse vorgebaut; Baldur von Schirach war nämlich gekommen, um die angeblich volksdeutsch gesinnte Polenjugend von Łódź zu befeuern.

Während ein paar Haufen halbverhungerter polnischer Bürschchen an dem fetten, selbstzufriedenen Baldur vorübermarschieren mußten und als die Vorkämpfer der künftigen "deutsch-europäischen Jugendgenerationen" begrüßt wurden, waren ein paar hundert widerspenstige Jungpolen, die man zum Abtransport zusammengetrieben hatte, in einem Bretterschuppen außerhalb der Stadt tatsächlich - verhungert und erfroren. Ich ließ die Mitteilung nachprüfen. Und sie stimmte bis in alle haarsträubenden Einzelheiten. Sobald die Flügeltüren des Schuppens geöffnet wurden, fielen die blaugefrorenen Leichen wie verdorbene Stapelware heraus.

Als ich daraufhin den Gebietsführer der Hitlerjugend, einen Studienreferendar, zur Rede stellte, war der Edelpädagoge nicht im geringsten verlegen. "Aber wir haben ja doch", lächelte er mit der verbindlichen Sicherheit eines Karrieristen, "mindestens zehn Millionen Polen zuviel, wir können doch solch eine kompakte Masse nicht eindeutschen. Da müssen sie doch peu à peu verschwinden, am besten so schnell und unauffällig, wie es die Kriegsverhältnisse gestatten!"

Noch nicht kleinlaut, Herr Verteidiger am falschen Ort! Sie meinen, es handle sich um einen unreifen jungen Mann, dem die Kriegspsychose in den Kopf gestiegen sei wie früher Bierkommers. Dann ein drittes Erlebnis, weitere acht Tage später in Warschau.

Ich hatte dort eine Aussprache mit einem hohen Richter, jetzt Mitglied des obersten Feldgerichts der Besatzungsarmee. Dieser weißhaarige Herr war gewiß kein Prototyp der Nazijugend, sondern schon Richter seiner Majestät des Königs von Preußen gewesen.

Es handelte sich bei unserem um den berüchtigten Fall Fritsch, der damals in eingeweihten Kreisen die Gemüter bewegte. Hitler hatte während des Polenfeldzuges befohlen, den früheren Chef der Heeresleitung, Generalobersten von Fritsch, meuchlings zu beseitigen. So sagte man. Die Einzelheiten blieben mysteriös. Nur sein Tod durch Schüsse von hinten war Tatsache.

Ich hatte aus Berlin die Weisung bekommen, auch den Fall Fritsch atmosphärisch noch einmal zu sichten. Als ich an hoher kriegsgerichtlicher Stelle vorfühlte, mußte ich eigentlich damit rechnen, auf finstres Schweigen zu stoßen, aber der alte würdevolle Gerichtspräsident ließ sich mit mir in eine längere rechtsphilosophische Unterhaltung ein.

"Nehmen wir an, der Herr von Fritsch sei wirklich ein Blutopfer der Staatsräson geworden, ja, wäre das denn wirklich ein Grund zur Erregung? Ich weiß natürlich nicht im geringsten, was sich wirklich ereignet hat, ich möchte es auch gar nicht wissen. Aber gesetzt der Fall - dann wäre doch nur ein Staatsschädling rechtzeitig gefallen. Fritsch war der Heros der Mißvergnügten. Nun bedenken Sie, es ginge mal während des Krieges etwas schief - schon wäre der Führer der Revolution vorhanden. Bitte rein theoretisch -"

"Verzeihung", wende ich ein, "hier liegt doch nicht einmal ein Tatverdacht vor, überhaupt kein Anzeichen für eine strafbare Handlung, überhaupt nur die rein theoretische Möglichkeit, die Tat könnte einmal in der Zukunft versucht werden, also nur vages Mißtrauen, und dafür den Tod? -"

"Bemühen sie sich doch nicht um überalterte juristische Erwägungen", sagte ausgerechnet der alte Jurist, der sich als junger Übernazi fühlte, "wir brauchen ein schöpferisches Recht, das die Ganzheit des völkischen Geschehens sieht. Im neuen Volksstaat wird es notwendig sein, auch schon diejenigen Elemente auszumerzen, die eine Disposition zum Staatsfeind in sich tragen."

Und darum, Herr Verteidiger, ein Beispiel für den Naziterror aus brutalem Demonstrationswillen. Es war wieder in Łódź, und es mag wieder acht Tage später gewesen sein, als meine Dienstreise durch das eroberte Polen wieder rückwärts ging. Während ich ganz ahnungslos beim Frühstück in der Glasveranda eines Kaffeehauses saß, begann man draußen in der Mitte des großen Platzes mit einer tollen Flaggenhissung.

An den Bannerquerhölzern von acht hohen Fahnenmasten wurden acht lebendige Menschen hochgezogen. Die waren an den Armen mit Stacheldraht auf das Querholz gekreuzigt, jawohl, so gekreuzigt, daß die Drahtstacheln tief in ihr Fleisch einschnitten. Die acht Gekreuzigten starben erst nach einigen Stunden an den Marterhölzern vier Meter hoch über der Erde mit verzerrten Gesichtern, die nach Erschlaffen der Nacken bis fast auf die Brust herabhingen.

Die acht waren Juden. Sie gehörten demselben Volke an wie ein gewisser Kruzifixus aus Nazareth.

Natürlich hatten wir am Offizierstisch im Kaffeehaus die Sache nicht stillschweigend hingenommen. Wir waren sofort zum "Höheren SS- und Polizeiführer" von Łódź gegangen. Der höhere, hohe Herr bedauerte, uns nicht persönlich zu Diensten swein zu können, aber seine Adjutantur stünde uns mit Untersuchungen zur Verfügung. Der Adjutant war ungemein höflich - man werde ja gleich hören, was da los sei. Er ging ins Nebenzimmer, um deswegen zu telefonieren, er kam wieder, bot neue Zigaretten an und ging wieder telephonieren. Sein Gesicht hatte die nervöse Arroganz des verlegenen Frechlings.

Aber dann kam er strahlend, er hatte alles auf beste aufklären können. "Also die acht Juden mußten wegen Sabotage gehenkt werden -, weniger wegen ihres eigenen Vergehens als wegen des allgemeinen passiven Widerstandes unter der jüdischen Bevölkerung."

Die acht Juden hätten ein Arbeitskommando gebildet, das den Auftrag hatte, mit Spitzhacken den gemauerten Obelisk des ehemaligen Kościuszko-Denkmals abzutragen. Schon in der ersten Arbeitsstunde wären drei Spitzhacken zerbrochen. Da mußte man natürlich durchgreifen, denn sonst könnte man erleben, daß morgen vielleicht pro Mann fünf Spitzhacken entzweigehen würden. Als bleibe gar nichts anderes übrig, als ein Exempel zu statuieren.
"Kampf um den Kopf" (1948), Seiten 192 bis 196
 9 years ago in Zitate
Kind, Kind, wenn du wüßtest! Sie erzählt von ihrer Hauswirtschaft in Wernigerode, von ihren Hühnern, vom Kirscheneinmachen, ja die Kirschenernte war besonders gut, doch leider gab es nicht so viel Zucker, wie man gebraucht hätte. Aber man müsse sich behelfen, es sei eben Krieg.

"Ja, es ist immer noch Krieg", nicke ich mechanisch und betrachte ihr hübsches, von keiner Not berührtes Gesicht. Ursula, denke ich, dir geht es besser als den meisten Frauen. Du hast ein schönes Haus, du hast einen tüchtigen Mann. Und er braucht nicht in die Bluthölle. Er ist Ingenieur und darf daheim an zuverlässigen Maschinen stehen.

Ursula hat nach allen Himmelsrichtungen eine loyale Seele und seit ihrer Maidenzeit beim Arbeitsdienst einige hitlerianische Spritzflecken im Gemüt. Ach, ich habe mich jahrelang viel zuwenig um die gute Ursula gekümmert. Wenn ich das nur noch einmal nachholen dürfte! Sie ist wahrhaftig ein liebes Kind, und wenn sie jetzt denkt, wer im Gefängnis sitzt, der müsse doch unrecht haben, so habe ich sie eben nicht zum geistigen Widerstand gegen diese Zeit erzogen.
"Kampf um den Kopf" (1948), Seite 120
 9 years ago in Zitate
Schon steige ich auf springende Säulen der Vision. Ich sehe mich auf dem Lukendeckel des Panzers stehen. Um mich her wogt hungerndes, dürstendes, sehnendes Volk. Und tausend Hände recken sich zum verhüllten Himmel. Ich will mit ihnen sein, ich will die abertausend Hände drücken, bis sie wachsen, immer länger und länger, immer höher und höher, bis sie in den Himmel reichen und den Vorhang zerreißen. Da umfließt es uns in goldner Helle: Frieden, Freiheit!

Eben noch blind und taub vom Strahl und Donner des Krieges, umarmen wir uns mit Kinderträumen im Herzen. Brüder, die Pforte steht uns offen, die Pforte zur Heimkehr in den Geist und die Liebe!

Unter mir aber, im Bauch der Maschine, knattern nicht mehr tödliche Entzündungen, ich höre den friedlichen Hammerschlag des neuen Schaffens, es riecht schon nach Brot und nicht mehr nach Brand. Und aus dem grauen Erz der Panzerwände sprießen die Sonnenstrahlen und reifen zu gelben Ähren. Und in den Armen halte ich die ewige Geliebte der Menschen, die niemals alternde Frau, die Freiheit!

Alle Geister erwachen, die Liebe siegt! Ich will nicht sterben, es ist eine Lust zu leben, und wenn in meinem Leibe tausend Zangen zerren!

Nichts mehr von feiger Selbstzerstörung, ich gebe mir Befehl, ich gebe mir den unumstößlichen Befehl: Du lebst, und du wirst leben! Roland Freisler, ich spotte deiner, du blutiger Hanswurst! Hinab in deine Hölle!

In unsern Panzern fährt der neue Geist. Aus unsern Panzern flammt das lebendige Wort.
"Kampf um den Kopf" (1948), Seite 65
 9 years ago in Zitate
Übrigens ertappe ich mich in der Gefangenschaft immer häufiger beim Zitieren von Sprüchen und Versen aus dem Schatze der Kultur. Früher habe ich solchen Gedankenschmuck geflissentlich gemieden, sobald er in meinem Bewußtsein aufglänzte und sich zur kostenlosen Benutzung anbot. Lieber mühte ich mich um eigene Formung, auch wenn sie viel schwächlicher blieb. Aber jetzt in einsamer Drangsal beglückt mich das Bündnis mit allen großen Geistern, ich leihe mir gern die Hilfe der alten Authoritäten. Man ist nicht mehr einsam, wenn man sich von den Meistern bekräftigen läßt, daß uns das gleiche Erlebnis vereint.
"Kampf um den Kopf" (1948), Seite 61
 9 years ago in Zitate
"Aber ich bitte Sie um alles in der Welt, sind Sie Politiker oder Irrenarzt?" ruft der Anwalt hilflos. "Deutschland ist doch schließlich kein Irrenhaus!"

"Es ist ein Irrenhaus", entgegnete ich mit Bestimmtheit. "Sie merken das nur nicht mehr, weil Sie im Prinzip bereitwillig mitspielen und nur bei kleinen, persönlich erlebten Einzelheiten mit Vernunftkritik zu meckern wagen. Aber das geht nicht nur Ihnen so. Jede Massenpsychose vernichtet allmählich das normale Urteil."
"Kampf um den Kopf" (1948), Seite 52
 9 years ago in Zitate
Zerknüllte Fußgänger schauen einen Augenblick forschend der sausenden Plumpheit unserer "grünen Minna" nach; sie mögen wohl denken: was für eine geheime Fracht haben die Nazis da schon wieder geladen? Von beschädigten Heldenbrüsten blinkt das Parteiemaille, das bunte Tarnungspflaster für alles. Diese geduckten Parteimannen auf den verunstalteten Straßen scheinen verzweifelt zu fragen: Was werden die Nazis schon wieder machen? - obwohl sie selber seit zwölf Jahren Nazis sind.

Ja, ich beobachte scharf und schnell, weil ich monatelang nichts sah als die grauen Wände, auf denen nur die Wanzen spazieren liefen.
"Kampf um den Kopf" (1948), Seite 13